Tish Murtha : Jeunesse délaissée
Kuratiert von Benjamin Ochse in Zusammenarbeit mit Ella Murtha.
6. Feburar bis 9. Mai 2021 in der Galerie La Chambre, Straßburg
Particia Anne »Tish« Murthas Fotografien stehen ganz in der Tradition der Dokumentation der britischen Arbeiterklasse, die erstmals von Charles Dickens in seinem Gesellschaftsroman »Oliver Twist« ausführlich beschrieben wurde. Zu den bekanntesten und wichtigsten Fotografen der britischen Arbeiter- und Sozialfotografie gehörte die Exilfotografin Edith Tudor-Hart (1908–1973), Bert Hardy (1913–1995) sowie Roger Myne (1929–2014) und Shirley Baker (1932–2014) oder Chris Killip (1946–2020). Tish Murtha hat sich selber nie als eine klassische Fotojournalistin gesehen, die im normalen Tagesgeschäft der Medien arbeitet, Politiker und Fußballspieler portraitiert oder Verkehrsunfälle und andere kleine und große Dramen des Alltags dokumentiert. Sie fotografierte das »ganz normale« Leben der Bevölkerung auf den Straßen in ihrer Umgebung. Tish wollte zeigen wie Polizisten Jugendliche verprügelten, wie sie in ihrem Vorstellungsgespräch für einen Studienplatz für Fotografie sagte und daraufhin postwendend von der Universität aufgenommen wurde.
Particia Anne »Tish« Murtha wurde am 14. März 1956 im heruntergekommen South Shields in Tyneside als das Dritte von zehn Kindern geboren. Sie verließ mit 16 Jahren die Schule und begann eine Vielzahl von unterschiedlichen Jobs, vom Verkauf von Hot Dogs bis zur Arbeit an einer Tankstelle. Zur Fotografie kam sie erst durch einen Abendfotokurs in Bath Lane in Newcastle, wo sie ihr Dozent, Mick Henry überzeugte, sich für einen Dokumentarfilmkurs in Newport zu bewerben. Henry war es auch, der ihr später zu einem Stipendium an der Universität verhalf. Im Alter von 20 Jahren verließ Tish ihre Heimat, um unter der Leitung des Magnum-Fotografens David Hurn an der School of Documentary Photography University of Wales in Newport zu studieren.
Tish Murthas Werk beschäftigte sich vorwiegend mit der Dokumentation von benachteiligten sozialen Randgruppen in ihrer Umgebung überwiegend in Newcastle. Dabei investierte sie viel Zeit für den Aufbau von vertrauensvollen Beziehungen zu ihren Protagonisten, die ihr einen intimen Zugang zu den von ihr fotografierten Gesellschaftsgruppen ermöglichten. Die jungen Menschen, die sie als Stadtfotografin im Rahmen eines Arbeitslosenprogramms über Kinder und später über Jugendarbeitslosigkeit sowie eine Jugend-Jazzband in Eslwick Newcastle fotografierte, zeigen wie hartnäckig, einfallsreich, geschickt und belastbar die Jugendlichen waren und auch sein mussten. Ihre Bilder erinnern an die Fotografien von Nick Hedges, Edith Tudor-Hart oder Dorothea Lange sowie an die »Farmerfamilie« Serie von Walker Evans in den 30er Jahren.
In ihrer fotografischen Arbeit fühlte sie sich gegenüber den Menschen in ihrer Umgebung und deren Problemen verpflichtet. Die sozialen Nachteile, die sie selbst in ihrer Kindheit und Jugend erfahren hatte, hebt sie deutlich in ihren Bildern hervor. In ihren Fotografien spürt der Betrachter die Vertrautheit der Fotografin mit den Menschen, als wäre sie ein Teil von ihnen. Kurze Zeit später wurden ihre Bilder von einem lokalen MP (Member of Parliament) im Unterhaus des Parlaments gezeigt, um die Auswirkungen der Thatcher-Regierung auf das Alltagsleben zu verdeutlichen.
Tish zog 1982 nach London, wo sie u. a. einen Fotoauftrag für eine Serie über die Sexindustrie in Soho erhielt, die 1983 in der Gruppenausstellung »London by Night« gezeigt wurde. Ihr letztes großes Projekt war die Dokumentation des Middlesbrough-Industriezentrums, bevor es im Rahmen des Middlehaven-Sanierungsprojekts fast völlig verschwand.
Tish Murtha war alleinerziehende Mutter, sie erlag am Vortag ihres 57. Geburtstag, am 13. März 2013, einem Hirnaneurysma. Als Organspenderin rettete sie vier Frauen das Leben und vier Männern das Augenlicht. Postum erhielt sie den Johanniterorden (Order of Saint John). Ihre Tochter Ella und Nachlassverwalterin begründet die späte Entdeckung und Anerkennung des Werks von Tish in der New York Times: »Because she didn‘t have a penis«. Damit teilt Tish Murtha das Schicksal mit vielen anderen bisher noch unbekannten Fotografinnen nicht nur in Europa. Seit dem frühen Tod setzt sich ihre Tochter Ella dafür ein, Tishs fotografischen Nachlass der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und so das Andenken an ihr herausragendes Werk zu erhalten. Aufgrund eines in England 2017 erschienen und viel beachteten Fotobandes über Jugendliche Arbeitslose kam es 2018 zu einer großen Ausstellung in der Photographers’ Gallery London, die ein breites Presseecho bekam, im gleichen Jahr erschien der Fotoband »Elswick Kids« gefolgt von zwei weiteren Bildbänden 2019 und 2020 im The Bluecoat Press Verlag.
Youth Unemployment
Fotogafien: Tish Murtha, Text: Val Williams
Softcover, Duotone, 270 x 290 mm, 168 Seiten, ISBN 9781908457424 @ The Bluecoat Press
Elswick Kids
Fotografien: Tish Murtha
Hardcover, Duotone, 270 x 290 mm, 180 Seiten, ISBN 9781908457509 @ The Bluecoat Press
Juvenile Jazz Bands
Fotografien: Tish Murtha
Hardcover, Duotone, 270 x 290 mm, 216 Seiten, ISBN 1908457562 @ The Bluecoat Press
In der Ausstellung werden erstmals in Frankreich über 70 Arbeiten der Werkserie von Kindern und arbeitslosen Jugendlichen aus ihrer Heimatstadt einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt.
Jeunesse délaissée : Tish Murtha
Vom 6. Feburar – 9. Mai 2021 in der Galerie La Chambre, Straßburg, weitere Informationen finden Sie auf der Webseite von La Chambre
Bisherige Stationen
Tish Murtha : England 78–81
mit über 140 Arbeiten, vom 29. März bis 12. Mai 2019
im Willy-Brandt-Haus, Berlin